Wolfgang Warsch ist DIE Neuentdeckung des Jahres. Wenn es nach mir ginge, hätte er definitiv den Preis "Neuer Stern am Spieleautorenhimmel" verdient.
Bisher konnte der Autor gerade mal auf zwei Spiele zurückblicken und hat dieses Jahr schon vier Spiele am Start, die mir durchweg alle richtig gut gefallen (und nicht nur mir).
Zusammen mit Illusion hat mir der Nürnberger Spielkartenverlag noch The Mind mitgeschickt. Man könnte The Mind wohl als Partyspiel bezeichnen, aber irgendwie trifft es das nicht so ganz. Alkohol sollte hier nur in Maßen konsumiert werden - so viel schonmal vorweg.
Denn es gilt Zahlenkarten in der richtigen Reihenfolge auszuspielen ... ohne ein Wort zu sprechen! Konzentration und Achtsamkeit sind bei The Mind in einem Maße gefordert, das mir bis dato beim Spielen noch nicht untergekommen ist ...
The Mind - Die Vermessung der Zeit
The Mind besteht aus 100 Zahlenkarten (logischerweise von 1 - 100) und 12 Levelkarten. Hinzu kommen fünf Leben und drei Wurfsterne.
Die Zahlenkarten werden gemischt, die Levelkarten beginnend mit Level 1 auf einem Stapel bereitgelegt. Abhängig von der Spielerzahl (max. 4) beginnt die Runde mit einigen Leben und einem Wurfstern.
Zu Beginn von Level 1 erhält jeder Mitspieler genau eine Karte. Ab sofort darf nicht mehr gesprochen werden. Zur gemeinschaftlichen Konzentration legen alle Beteiligten ihre noch freie Hand mit der Handfläche auf den Tisch. Sobald alle Mitspieler der Meinung sind, sie befinden sich im Einklang mit Raum und Zeit, werden die Hände wieder erhoben und es kann losgehen.
Nun zählt es, alle ausgeteilten Karten in der richtigen Reihenfolge auf einem Stapel in der Tischmitte auszuspielen. Es darf sich nicht abgesprochen werden, auch sind Geheimbotschaften und -signale verboten.
Wer der Meinung ist, die eigene Karte sei nun an der Reihe, kann diese jederzeit ausspielen. Anschließend gibt es zwei Möglichkeiten:
- entweder die Karte wurde korrekt ausgespielt, d.h. es hält kein Mitspieler eine Karte auf der Hand, die niedriger ist. Dann geht das Spiel ununterbrochen weiter und evtl. wirft nun jemand hektisch die direkt nachfolgende Karte ab, oder
- es gibt einen oder mehrere Spieler, die eine niedriger Karte auf der Hand halten. In diesem Fall wird das Spiel durch eben diese/n Mitspieler unterbrochen. Alle Karten, die niedriger sind als die soeben ausgespielte werden beiseitegelegt, das Team verliert eines ihrer wertvollen Leben. Danach kann sich das Team neu konzentrieren und das Level fortsetzten.
Verliert man auf dies Weise das letzte Leben ist das Spiel zu Ende und man hat gemeinsam gegen The Mind verloren.
Die verfügbaren Wurfsterne haben eine Sonderfunktion und können jederzeit eingesetzt werden, vorausgesetzt das Kollektiv ist einstimmig dazu bereit. Sobald ein Spieler einen Wurfstern nutzen möchte macht er dies durch Handheben kund. Stimmen alle zu, dürfen alle Spieler ihre jeweils niedrigste Karte offen abwerfen. Der genutzte Wurfstern kommt ebenfalls beiseite und kann durch das Meistern von Level 2, 5 und 8 wieder zurückerobert werden.
Gelingt es, gemeinsam alle Karten auszuspielen, dann darf man ein Level aufsteigen und erhält als Belohnung evtl. noch einen Wurfstern oder sogar ein weiteres Leben. Abhängig von der Spielerzahl wird The Mind gewonnen, wenn man 8, 10 oder 12 Level (bei 4,3,2 Spielern) gemeistert hat.
The Mind - Warten als Spiel
Das Wort Achtsamkeit begleitet mich nun schon seit einigen Jahren, wird in der Kindererziehung aber auch im alltäglichen Miteinander im Angesicht wachsender Digitalisierung und ständiger Verfügbarkeit immer mehr gefordert und gebraucht. The Mind ist für mich DAS Spiel zum Thema Achtsamkeit!
Ich habe schon lange nicht mehr jemandem soooo lange und tief in die Augen geblickt wie bei diesem Kartenspiel. Hier ist jede Gesichtsregung von Bedeutung, jedes angedeutete Lächeln und jede minimale Handbewegung. Sekunden verstreichen und niemand bewegt sich, Atmen wird zum Mittelpunkt.
Und wenn dann doch jemand mal zaghaft eine eigene Karte in Richtung Mitte schiebt und abwarteten in die Runde blickt, dann kommt es nicht selten vor, dass der ein oder andere Mitspieler ebenfalls eine Karte ausspielen möchte. Die Anspannung ist regelmäßig greifbar, aber auch die gelassene Ruhe, wenn man geduldig auf seinen Einsatz wartet, da man nur hohe Zahlen auf der Hand hält.
Das ist für den ein oder anderen ein seltsames Gefühl und nicht jeder ist dazu in der Lage sich auf dies Art Spiel einzulassen. Aus eigener Erfahrung würde ich zu übermäßigem Alkoholkonsum abraten, wer tatsächlich vorhat The Mind zu meistern.
Interessant ist es auch zu sehen wir unterschiedlich die Uhren der Mitspieler ticken. Dachte ich immer, ich wäre beim Spielen relativ geduldig zeigt sich bei The Mind schnell, dass ich es eigentlich nicht bin. Sich auf die Zeitwahrnehmung der Mitspieler einzulassen und evtl. auch um einige Stufen runterzufahren ist gar nicht so einfach ... und macht doch diesen besonderen Reiz bei The Mind aus.
Gelegentlich ist man beim Spielen mit langsamen Spielern konfrontiert, die jede Möglichkeit analysieren und dadurch das Spiel unnötig in die Länge ziehen. Wir alle wissen: solchen Mitspielern könnte man regelmäßig an die Gurgel gehen. Bei The Mind jedoch ist genau dieses Warten der Kern des Spiels und sich darauf einzulassen eine ganz eigene Erfahrung.
The Mind erinnert auf die erste Beschreibung hin stark an The Game vom gleichen Verlag, bei dem es auch darum ging Zahlen in der richtigen Reihenfolge auf vier Stapeln auszuspielen. Auch hier waren detaillierte Absprachen nicht erlaubt, jedoch Andeutungen und Hinweise. Zudem wurde immer reihum eine Karte ausgespielt, es war also nicht so sehr das WANN, sondern vielmehr das WAS und WOHIN spielentscheiden.
Und genau darin unterscheiden sich diese beiden Spiele dann doch sehr voneinander. The Game wird so lange gespielt, bis keiner mehr regelkonform eine Karte ausspielen kann. Bei The Mind kommt das Ende oftmals unvorhergesehen.
Das Aufatmen ist immer dann besonders groß, wenn man es tatsächlich schafft zwei direkt aufeinanderfolgende Zahlen korrekt auszuspielen. Danach ist dann auch oft erstmal Durchschnaufen angesagt und nur zu gerne wird die Hand zur kollektiven Konzentrationspause auf den Tisch gelegt. Das mag für Außenstehende irgendwie bekloppt aussehen, ist aber tatsächlich spielförderlich.
Der Einsatz der seltenen Wurfsterne will ebenso taktisch geschickt überlegt sein. Nicht selten retten sie die Gruppe ins nächste Level und sollten daher eingesetzt werden, wenn man irgendwie das Gefühlt hat, es braut sich was zusammen und keiner traut sich den nächsten Schritt zu tun und die nächste Karte zu spielen. So kann eine Partie The Mind durchaus auch länger als die angegebenen 20 Minuten dauern, besonders dann, wenn man es tatsächlich in die höheren Level schafft.
Da tue ich mich auch mit der Altersangabe ab 8 Jahre schwer. Bisher habe ich The Mind nur mit Erwachsenen gespielt und kann mir nicht vorstellen, dass es mit einem zappeligen 8-jährigen wirklich funktionieren kann. Eine Altersangabe ab 10 erscheint da realistischer, auch wenn die Optik (der süße schwebende Hase) dies nicht unbedingt vermittelt.
Die Levelkarten und deren Beschreibung zaubern regelmäßig fette Grinser in die Gesichter der Beteiligten. Sei es die Sub-Kognitive Wahrnehmung auf Level 3, auf der der Hase eine Möhre im Jedi-Style mit der Kraft seines Geistes teilt oder die Abspaltung vom Raum-Zeit-Kontinuum auf Level 10, das wir bisher noch nicht erreicht haben.
Das Regelwerk ist übersichtlich und doch umfangreicher als man es erwartet hätte und die erste Regelerklärung dauert tatsächlich meist auch länger als gedacht, da viele neue Spieler das Spielprinzip erst mal verinnerlichen müssen. Wem es tatsächlich gelingen sollte The Mind zu meistern, dem wird in der Regel noch eine Variante vorgeschlagen: beginnend mit Level 1 werden die Zahlenkarten verdeckt in die Mitte des Tischs gespielt, d.h. man weiß erst am Ende des jeweiligen Levels ob die Reihenfolge der ausgespielten Karten korrekt ist und man ein Level aufsteigt oder ein Leben verliert. Ich habe fast die Befürchtung das wird bei uns noch eine ganze Weile dauern bis wir diese Variante tatsächlich mal ausprobieren können. Bisher habe ich es leider noch nicht geschafft The Mind zu meistern, bin aber mit meinem Bruder auf beachtliche 10 Level aufgestiegen.
Tatsächlich funktioniert The Mind (zumindest bei mir) mit Leuten, die man schon länger kennt, etwas besser. Muss aber nicht heißen, dass diese Kartenspiel unbedingt für jedermann gemacht ist. Wer bei Spielen schlecht verlieren kann, der sollte von The Mind evtl. die Finger lassen. Denn wenn das Kollektiv verliert, wird gerne der Schuldige gesucht und im Gegensatz zu anderen Koop-Spielen ist der- oder diejenige bei The Mind schnell gefunden.
Auch wenn The Mind hierzulande derzeit einen riesigen Hype erlebt, der von so manchem Spielekenner als solcher auch abgetan wird, hat das Spiel für mich einen absoluten Wiederspielwert und ist daher neben Azul ein heißer Kandidat zum Spiel des Jahres.
Ich bin mal gespannt, wie viele von Wolfgang Warschs Spielen die Jury dieses Jahr bereit ist auf die Nominierungs- und Empfehlungs-Liste zu setzen. Denn interessanterweise sind alle vier Neuheiten dieses jungen Spieleautors komplett unterschiedlich: neben The Mind erschien noch das Bagbau-Spiel Quacksalber von Quedlinburg, das Würfelspiel Ganz schön clever sowie das bereits vorgestellte Illusion.
Da freue ich mich jetzt schon auf die Zukunft mit Wolfgang Warsch und ich hoffe er macht seine Ankündigung wahr und lässt den bisherigen Familienspielen noch ein paar großartige Kinderspiele folgen, die ich dann natürlich auch gerne hier vorstellen werde.
Nachtrag 16.05.2018: Und die Jury hat es tatsächlich getan: drei Wolfgang Warsch Spiele stehen auf den Nominierungslisten zum diesjährigen Spiel des Jahres. The Mind ist davon als einziges auf der Nominierungsliste für die Familienspiele vertreten. Es wäre eine ungewöhnliche Wahl ... aber dafür sind die Jurymitglieder ja bekannt. Wir harren also der Dinge und sehen ob The Mind tatsächlich Azul links liegen lässt.
Vielen Dank an den NSV-Verlag für die Bereitstellung eines Rezensionsexemplars von The Mind!